Leichathletik: Niko Kappel: „Ich möchte nicht größer sein“

Redaktionsgast des Monats: Der kleinwüchsige Kugelstoßer Niko Kappel vom VfL Sindelfingen spricht über Ziele, Grenzen und seinen Dauerrivalen

Weltmeister und Olympiasieger ist Niko Kappel vom VfL Sindelfingen schon. Den Weltrekord ist er mittlerweile los, sein Dauerrivale Bartosz Tyszkowski hat die Nase beim Kugelstoßen der Kleinwüchsigen jetzt um zwei Zentimeter vorn. Der zweifache Behindertensportler des Jahres möchte das lieber heute als morgen ändern – und scheint trotzdem in sich zu ruhen. Das große Fernziel für den 23-Jährigen sind die Paralympischen Spiele 2020 in Tokio.

Der SZ/BZ-Redaktionsgast des Monats spricht über Ziele, Grenzen und sein Selbstverständnis.
Sie sind der erste Kleinwüchsige, der die 14-Meter-Marke beim Kugelstoßen geknackt hat. Der Pole Bartosz Tyszkowski hat den Weltrekord auf 14,04 Meter gesteigert. Wie weit werden diese Grenzen verschoben?
Niko Kappel: „Das wüsste ich selbst gerne. Im Biomechanik-Labor der Uni Stuttgart läuft derzeit genau dazu eine Untersuchung. Robert Bollinger leitet diese und nimmt mich und den früheren Kugelstoßer und heutigen Speerwerfer Mathias Mester unter die Lupe. Ich sage mal so: Ich weiß, welche Arbeit hinter den 14 Metern steckt, wage aber nicht, irgendeine Prognose abzugeben. Eins ist aber klar: Wenn das ein Kleinwüchsiger überbieten will, muss er sich gewaltig strecken.“
Geht es bei Ihnen noch weiter?
Niko Kappel: „Im Training hatte ich schon mehr als den heutigen Weltrekord drauf, aber da muss schon alles passen. Außerdem heißt es, dass Kugelstoßer zwischen 29 und 32 Jahren ihre beste Zeit haben.“
Sie liefern sich seit Jahren ein heißes Duell mit Bartosz Tyszkowski. Ist er für Sie ein Glücksfall oder ein Ärgernis?
Niko Kappel: „Ganz klar ein Glücksfall. Der Sport lebt von Spannung, wir treiben uns gegenseitig an.“
Wie ist Ihr Verhältnis?
Niko Kappel: „Ich für meinen Teil respektiere ihn. Wie es umgekehrt ist, kann ich nicht genau sagen. Bis Rio 2016 war das Verhältnis eigentlich wunderbar. Aber als ich ihn da geschlagen habe, hat sich das ein bisschen geändert. Er lacht zwar nie viel, aber seine Blicke damals sprachen Bände. Wir haben uns dann lange nicht gesehen. Genauer gesagt, bis zu den Europameisterschaften in Berlin. Da hat er in seinem ihm eigenen Englisch auf Facebook Botschaften gepostet wie ‘I beat you’ und ‘I ready for you’. Beim Wettkampf haben wir uns dann ganz normal gegrüßt. Aber man hat schon gemerkt, wie wichtig dieser Sieg und der Weltrekord für ihn waren.“
Steht für ihn mehr auf dem Spiel als für Sie?
Niko Kappel: „Vielleicht ist das wirklich so. Ich weiß zum Beispiel nicht mehr genau, was er für eine paralympische Goldmedaille bekommen hätte. Aber ich glaube, er hätte damit beinahe ausgesorgt.“
Wir hinken anderen meilenweit hinterher
Für Sie gab es als Prämie 20 000 Euro.
Niko Kappel: „Ja. Und ich bin jetzt wirklich nicht undankbar, sondern froh darüber, dass wir mit den olympischen Sportlern damit gleichgestellt sind.“
Aber?
Niko Kappel: „Es ist schon so, dass wir in der Sportförderung vielen anderen Nationen meilenweit hinterher hinken. Ein Sportler aus Malaysia bekommt für Gold bei den Paralympics 150 000 Euro, ein Auto und ein Haus. In Deutschland muss man sich aber auch in diesem Erfolgsfall gut vermarkten. Wenn Du dann auch noch introvertiert bist, wird es schwer.“
Wie sieht denn die Sportförderung abseits der Prämien aus?
Niko Kappel: „Etwa 20 paralympische Sportler werden von der Bundeswehr gefördert. Hier gibt es 1250 Euro im Monat. Von der Top-Team-Förderung der Deutschen Sporthilfe gibt es für Athleten, die sich im Silber- und Bronzebereich bewegen, 500 Euro. Davon gehen die Abzüge weg. Dann bleibt am Ende wenigstens ein Grundstein übrig.“
Aber nur, wenn man es schon in die Spitze geschafft hat.
Niko Kappel: „Genau das ist ein großes Problem. Ein Beispiel: Ohne einen Arbeitgeber, der mich freistellt, hätte ich keine Junioren-WM gehabt und dann auch keinen Kaderstatus bekommen. Dann wäre ich raus aus der Förderung gewesen.“
Ich trainiere vier Jahre für fünf oder sechs Sekunden
Und Deutschland hätte nicht über die paralympische Goldmedaille gejubelt. Der Weg dorthin war aber nicht geradlinig. Warum entschieden Sie sich als ehemaliger Kicker und damit Mannschaftssportler für eine Disziplin wie das Kugelstoßen, wo jeder für sich alleine ackert?
Niko Kappel: „Und dann auch noch ziemlich kurz im Einsatz ist, möchte ich ergänzen. Meine Kugelstoßbewegung dauert eine gute Dreiviertel Sekunde. Sechs Versuche habe ich, das macht fünf bis sechs Sekunden. Für diese kurze Zeit trainiere ich genau genommen von Rio 2016 bis Tokio 2020, also vier Jahre lang.“
Warum machen Sie das?
Niko Kappel: „Meine Familie ist sportbegeistert, ich habe mich immer mit vor den Fernseher gesetzt. Leichtathletik fand ich immer klasse, und hier wiederum besonders die technischen Disziplinen. Als Kleinwüchsiger gibt es nur Speerwerfen und Kugelstoßen. Und beim Kugelstoßen habe ich 2008 in Mathias Mester einen Mann gesehen, der sich mit den Besten der Welt misst. Mit Gleichgesinnten und Gleichgestellten im sportlichen Wettbewerb. Das wollte ich auch.“
Ist der Weg in den Sport für einen behinderten Menschen schwerer?
Niko Kappel: „Ich habe diese Erfahrung nicht gemacht, und genau das möchte ich gerne vermitteln. Bei Kindern spielt eh jeder mit jedem, und wenn Du klein bist, schlägst Du beim Fange spielen auch die engeren Haken. Man sollte nur dran bleiben.“
Fühlen Sie sich behindert?
Niko Kappel: „Jeder Mensch hat Möglichkeiten, fühlt sich irgendwo wohler als an anderer Stelle und ist deshalb auch irgendwann auf eine gewisse Weise behindert. Ich für meinen Teil bin zufrieden.“
Welchen Teil trägt der Sport dazu bei?
Niko Kappel: „Jeder kennt die Vorzüge, sei es im sozialen, im gesundheitlichen oder im integrativen Bereich. Und bei mir hat er natürlich auch Türen geöffnet.“
Sie haben eine überdurchschnittliche Medienpräsenz – auch wegen des Dauerduells mit Bartosz Tyszkowski. Wie lange beschränkt sich dieser Wettbewerb noch darauf?
Niko Kappel: „Da kommt schon noch einiges nach. Wenn ich an ein paar ganz junge Talente denke, bin ich fast schon froh, dass ich aufhöre, wenn diese zu den Aktiven stoßen. Kurzfristig kann man schon darauf gespannt sein, was vom US-Amerikaner Hagan Landry kommt. Er trainiert zusammen mit dem Olympiasieger Ryan Crouser. Der Brite Kyron Duke hat einiges drauf. Und bei den Chinesen wie Zhiwei Xia kann man sich auch nie sicher sein.“
Behindertensport ist neben Fußball der einzige Sport mit wachsenden TV-Zeiten
Haben diese Wettbewerbe mehr Aufmerksamkeit verdient?
Niko Kappel: „Man muss die Kirche im Dorf lassen. 2008 liefen die Paralympics quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Und bei meiner ersten EM habe ich genau ein Interview gegeben, das dann in drei Zeitungen erschien. Von den Europameisterschaften in Berlin gab es Livebilder und Zusammenfassungen im Frühstücksfernsehen. Man kann immer mehr wollen – sollte aber nicht vergessen, woher man kommt. Ich glaube, Behindertensport ist neben Fußball der einzige Sport mit wachsenden TV-Zeiten.“
Sie sprechen gerne von Duellen unter gleichen Voraussetzungen. Was sagen Sie zu einem Weitspringer wie Markus Rehm, der mit Prothese springt und sich mit normalen Sportlern messen möchte?
Niko Kappel: „Das ist ein ganz heikles Thema, und man muss immer aufpassen, wie Aussagen dazu interpretiert werden. Ich kann auf jeden Fall beide Seiten verstehen. Die Olympischen Sportler, aber auch Markus Rehm. Aber ich finde, dass hier keine Vergleichbarkeit möglich ist. Markus Rehm hat Nachteile beim Anlauf und vielleicht Vorteile beim Absprung. Brauche ich da einen Umrechnungsfaktor? Und ändere ich das dann wieder, wenn der Nächste kommt und noch viel weiter springt? Ich finde es klasse, wenn Wettbewerbe gemeinsam stattfinden, gewertet werden sollte aber getrennt.“
Umrechnungsfaktor – ein gutes Stichwort. Waren Sie schon einmal in Versuchung, einen Biomechaniker zu fragen, wie weit Sie stoßen würden, wenn Sie 1,80 oder zwei Meter groß wären?
Niko Kappel: „Nein. Ich bin so, wie ich bin, und das ist gut so, mit allen Vor- und Nachteilen. Jeder Mensch hat seine Stärken und Schwächen, in- und außerhalb des Sports. Ich möchte mit niemandem tauschen und möchte auch nicht größer sein.“
Trotzdem, Sportler vergleichen sich gerne. Auch über Disziplinen und Sportarten hinweg. Wie viele Kilogramm legen Sie eigentlich beim Bankdrücken oder in der Beinpresse auf?
Niko Kappel: „Beim Bankdrücken sind es maximal 190 Kilogramm, bei der schrägen Beinpresse 430 Kilogramm.“
Zur Person
Niko Kappel ist am 1. März 1995 in Schwäbisch Gmünd geboren und wohnt in Welzheim. Dort spielte er bis zur B-Jugend Fußball, heute sitzt er als Mitglied der CDU-Fraktion im Welzheimer Gemeinderat. Seit seinem Wechsel zum VfL Sindelfingen trainiert er unter anderem mit dem VfL-Olympia-Kugelstoßer Tobias Dahm in der Trainingsgruppe von Peter Salzer. Er wurde Junioren-Weltmeister, Vizeweltmeister 2015, Vize-Europameister 2016 und trat mit dem Goldstoß bei den Paralympischen Spielen 2016 ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. 2017 holte er sich den Titel des Weltmeisters, 2018 schraubte er den Weltrekord mit der Vier-Kilo-Kugel auf 14,02 Meter und gewann im gleichen Jahr bei den Europameisterschaften in Berlin die Silber-Medaille. Niko Kappel wurde 2016 und 2017 zum Behindertensportler des Jahres gewählt. Der gelernte Bankkaufmann absolvierte seine Lehre bei der Volksbank Welzheim und arbeitete dort als Kundenberater. Heute fokussiert er sich voll auf den Sport. Der 1,40 Meter große Athlet trägt den Spitznamen „Bonsai“. Auf der Seite www.niko-kappel.de gibt es mehr über ihn im Internet.
Bild: Ein Tag wie gemalt im Juni 2018: Niko Kappel knackt als erster kleinwüchsiger Kugelstoßer die 14-Meter-Marke und stellt damit einen neuen Weltrekord auf. Bild: Eibner/A
Quelle: SZBZ Online