Leichtathletik: Der Weltrekordler, der keiner sein durfte

Ein Weltrekordhalter, der keiner sein durfte, der deutsche Behindertensportler des Jahres und viele weitere Top-Athleten fanden sich am Samstag zur Weihnachtsfeier der Leichtathleten des VfL Sindelfingen zusammen.

Mehr als 40 Jahre ist es nun schon her, das persönliche Drama des Rolf Oesterreich. Der Ausnahmesportler stieß bei einer kleinen DDR-Bezirksmeisterschaft im September 1976 seine Kugel 22,11 Meter weit. Ein so weiter Stoß war zu dieser Zeit noch keinem anderen Kugelstoßer der Welt gelungen. Doch die Sportfunktionäre verschwiegen seinen Weltrekord, alles wurde getan um die großartige Leistung zu vertuschen. Schon wenige Monate zuvor war Oesterreich um seinen großen Traum gebracht worden. Mit einer Bestleistung von 21,45 Metern hätte er als bester DDR-Sportler zu den Olympischen Spielen nach Montreal fliegen sollen, in den Flieger stiegen aber andere. Zuerst wurde vom Kugelstoßer gefordert, einen Weltrekord zu stoßen, um bei Olympia dabei zu sein – andere Kugelstoßer hätten lediglich die Norm von 20,90 Metern erfüllen müssen.
Als aber selbst ein Weltrekord für Oesterreich möglich schien, erklärte man ihn kurzerhand für sportuntauglich. Eine Teilnahme bei den Olympischen Spielen war nun unmöglich. Und alles aus einem Grund: Oesterreich gehörte nicht zu den staatlich kontrollierten Kaderathleten, sondern war ein einfacher Volkssportler. Er trainierte in der Hochschulgemeinschaft Zwickau und hatte sich das Kugelstoßen weitgehend selbst beigebracht.
Anders als seine Konkurrenten, denen er mit einer Größe von 1,80 Meter körperlich unterlegen war, nutzte er die Drehstoßtechnik. Oesterreich erzielte mit seiner sauberen Technik herausragende Weiten. Doch einen Volkssportler, der die etablierten Kaderathleten bezwingt, durfte es nicht geben.
Verbissen trainierte Oesterreich, um es der Welt zu zeigen, doch als ihm dann bei den Kreismeisterschaften in Zschopau bei Chemnitz der Weltrekord gelang, erfuhr das niemand. Der Rekord wurde bald aus den Bestenlisten gestrichen, man bot ihm Geld und einen Trainerjob an. „Wenn ich die Bilder von früher sehe, dann kommt alles wieder hoch, und ich rege mich wieder auf. Diese Wut wird mich nie verlassen“, sagt Rolf Oesterreich. Zu Gast auf der Weihnachtsfeier des VfL Sindelfingen wurde die Geschichte des Ausnahme-Sportlers präsentiert. „Es hat sich damals ein menschliches Drama abgespielt. Heute ist Rolf Oesterreich immer noch der beste Ansprechpartner für die Drehstoßtechnik“, sagt Abteilungsleiter Markus Graßmann.
Als Trainer betreut Oesterreich regelmäßig die VfL-Nachwuchstalente Simon Bayer und Eric Bundschuh. An Artur Hoppe vermittelt er sein Wissen als Trainer. „Simon sehe ich nächste Woche beim Trainingslager in Kienbaum wieder. In Deutschland hat er die fortschrittlichste Drehstoßtechnik. Über kurz oder lang traue ich es ihm zu zwanzig Meter zu stoßen“, sagt Oesterreich.
Auch von Trainer Artur Hoppe hält er viel: „Ich bin jetzt 67, irgendwann ist Schluss. Mein großes Ziel ist es, dass jemand mein Wissen anwenden kann. Artur ist dafür am besten geeignet. Er war selbst Drehstoßer und hat ein sehr hohes Niveau in der Theorie.“ Bei vollem Haus und guter Stimmung feierten die Leichtathleten im Hotel Mercure an der Messe ihre erfolgreichste Saison seit Jahrzehnten, zu der mit Tobias Dahm und Niko Kappel und mit Nadine Hildebrand einen großen Teil beitrugen.

Zum Sindelfinger Leichtathleten des Jahres wurde Sympathieträger Niko Kappel gekürt, der mit seinem Paralympics-Sieg für große Freude in den Reihen der Sindelfinger gesorgt hatte.
„Die Weihnachtsfeier war ein schönes Erlebnis. Ich habe sogar meinen ehemaligen Athleten Martin Gratzer wiedergesehen. Die Reise hat sich gelohnt“, sagt Oesterreich.
VfL-Abteilungsleiter Markus Graßmann (links) mit dem aus politischen Gründen verhinderten Weltrekordler Rolf Oesterreich im lockeren Plausch bei der Weihnachtsfeier der Sindelfinger Leichtathleten. Bild: Photo 5
Quelle: SZ-BZ Online