Behinderten-/ Rehasport: Mit Lebensretter Larry an die Platte

„Ich wollte wieder Tischtennis spielen. Ich wollte wieder ans Meer. Und ich will wieder Canyoning machen.“ Zwei dieser Ziele hat Sarah Kornau erreicht. Wer ihre Geschichte hört, hat keinen Zweifel daran, dass sie auch den dritten Haken setzt – selbst wenn es auf den ersten Blick nicht danach aussieht.
Die 34-Jährige hat sich gerade aus dem Rollstuhl auf das schattige Bänkchen vor der Sporthalle des Sindelfinger Pfarrwiesengymnasiums gelupft. Das Gehen fällt schwer, vor allem die beiden Brüche im Mittelfuß tun weh. Es ist noch nicht alles gut, aber so viel besser. Sie reibt die Hände mit Desinfektionsmittel ein, weil sie das immer tun muss, wenn sie aus dem Bus gestiegen ist und bevor sie sich ein Stückchen Hefekranz nimmt. Bakterien sind überall, sie muss aufpassen. Sarah Kornau trägt ein T-Shirt, das Bände spricht: „I’m Larry. I’m new here“ steht neben der Comic-Leber. „Ich bin Larry, ich bin neu hier“, heißt das. Im Rucksack sind Medikamente für den Fall der Fälle. Und zwei Medaillen.
Sarah Kornau strahlt wieder. So wie vor jenem Novembertag im Jahr 2014. Einen seltsamen Spitznamen haben ihr die anderen verpasst: „100 Prozent Fruchtsaft“, wird die junge Frau genannt, weil sie so gesund lebt und Alkohol nicht einmal verschenkt. Wenn jemand Geburtstag hat, dann gibt es von ihr einen Fruchtsaft. Sarah Kornau spielt Tischtennis, ist viel draußen, am liebsten beim Canyoning in Italien oder Österreich. Im Neopren arbeitet sie sich durch die Klamm. Seile baumeln 75 Meter in die Tiefe, ein freier Fall endet nach 13 Metern im eiskalten Gebirgswasser. Die Lehrerin ist fit wie ein Turnschuh.
Dann ist es Freitag, die Kollegen in der Göppinger Pestalozzischule sitzen zusammen. „Ein superschöner Morgen, aber ich war total platt. Dann wurde mir übel“, erinnert sie sich an Tage, die verschwimmen und Stunden, die verschwinden. Die Lider werden zentnerschwer, 40 Stunden lang schläft sie und wird trotzdem nicht mehr richtig wach. Sie wundert sich. „Der Schmerz der Leber ist die Müdigkeit“, weiß sie heute. Sie wird gelb. „Das ist nicht gut. Gelb ist gar nicht gut“, sagt sie. Gelb ist außen, wenn innen Gift ist. Die Leber versagt.
Wie sie in die Nürtinger Klinik kommt, weiß sie nicht mehr. „Ich dachte, ich bin selbst gefahren.“ Aber das stimmt wohl nicht. Dann liegt sie im Krankenwagen, wird nach Tübingen verlegt. Die Leber reinigt den Körper nicht mehr, sie schüttet Ammoniak aus. Der Quick-Wert fällt auf 13, eine Katastrophe, die Blutgerinnung läuft aus dem Ruder. „Machen Sie die Augen auf“, glaubt sie sich an eine Stimme zu erinnern. Sicher ist das nicht. Es ist vielleicht Mittwoch. Oder doch Dienstag? Am Donnerstag legen die Ärzte sie ins künstliche Koma. Es wird Samstag, die Leber ist tot. Sarah Kornau weiß nur noch eines: „Ich wollte nicht an der Maschine sterben, ich wollte heim.
Zwei oder drei Tage bleiben ihr jetzt noch maximal, das Leben hängt am seidenen Faden. Sonntagmorgens um 4 Uhr kommt die Nachricht. Die Spenderleber ist unterwegs. „Ich hatte Riesenglück. Vor allem mit meiner Blutgruppe. Null negativ, da gibt es selten ein Organ. Am Montag wäre ich tot gewesen.“ Dann kommt Larry – „und ich wurde zum zweiten Mal in Tübingen geboren.“
„Mach keinen Larry“, sagt man in Hessen, um jemanden zur Vernunft zu rufen. Daher der Name. Sarah Kornau flüstert ihrem neuen Innenleben immer mal wieder zu: „Hey Larry, mach keinen Larry.“ Er hält sich nicht immer daran. Der Körper mag ihn nicht, will ihn abstoßen. Wie im Koma erwischt Sarah Kornau das Durchgangssyndrom. Im Wachschlaf verschwimmen schräge Bilder. Filme laufen ab, Wahnvorstellungen, die sich nicht greifen lassen. Das Duett mit Rolf Zuckowski hat es nie gegeben.
Wieder wird operiert, Stents werden eingesetzt, später droht eine dritte OP. Einige Ärzte wollen die Leber der jungen Frau schon aufgeben. Professor Silvio Nadalin spricht ein Machtwort. „Der große Häuptling in Weiß“, wie sie ihn auf Station 47 nennen, entscheidet: nicht aufgeben, erneut einen Stent implantieren. Als die dritte Operation droht, ändert er die Medikation – und rettet Sarah Kornau dadurch erneut das Leben. Einmal hatte er es auch vorher schon getan, als er meinte: „In zwei Wochen spielen wir Tischtennis.“ Ihr Spiel des Lebens findet tatsächlich statt. Zwar nicht gegen Professor Nadalin, weil Notfälle dazwischen kamen. Aber gegen einen Freund. Es dauert nur vier Ballwechsel: „Ich war platt. Ich war Schnitzel. Aber ich habe gespielt.“
Auch wenn Larry heute manchmal immer noch Larry macht, empfindet sie zu ihrem Spenderorgan tiefe Zuneigung. Mit dem E-Bike ist Sarah Kornau schon von Tübingen bis zum Bodensee gefahren. Bei den Europameisterschaften der Transplantierten in Finnland holte sie dreimal Gold im Tischtennis, Silber über die 200 Meter und Bronze im Hochsprung. Für die World Games in Málaga hat sie sich in Sindelfingen fit gemacht. Einmal die Woche fährt sie von ihrem Wohnort in Weilheim zum Pfarrwiesengymnasium für die Trainingseinheit mit dem VfL-Rehasport.
Eiserner Wille mit positiver Leidenschaft lässt sie in Málaga antreten, wo sie den Speer aus dem Rollstuhl heraus auf 11,63 Meter katapultiert, beim Ballwurf antritt, beim Petanque im Viertelfinale rausfliegt, wo ihre Teamkameraden sie ins Meer tragen und wo sie beim Darts und im Tischtennis-Einzel als einzige Spielerin im Rollstuhl Bronze gewinnt – eine Medaille, die alles bedeutet.
Dann schreibt sie solche Zeilen:
„Auch wenn ich manchmal so locker darüber erzählen kann, gibt es Zeiten, in denen es mir nicht leicht fällt. Dann brauche ich meine Docs, die ihr Bestes geben und mich gleichzeitig als Mensch wahrnehmen, liebe Leute, die wirklich verstehen, was es bedeutet, so etwas mitmachen zu müssen, (besonders die anderen Transplantierten) und den Sport, der mich trägt. Ich habe das Talent, viel Negatives zu vergessen. Ich glaube, das ist ganz gut so. Ich lebe. Wir leben. Und wir hatten alle längst gewonnen, bevor die Weltspiele in Málaga überhaupt begonnen haben. Und dann finden wir diese Medaille im Rucksack, die genau das symbolisiert… Können Sie sich vorstellen, wie sich das anfühlt?“
Sarah Kornau: am Ball für Deutschland. Bild: Miguel Mérdia Nicolich
Quelle: SZ-BZ Online