Judo: „Ich hatte noch nie so viel Muskelkater“

Judo: Beim VfL Sindelfingen halten auch in diesen Zeiten alle zusammen, damit keiner durch den Rost fällt / Welche Werte der Sport vermittelt – Folge 2: Schutz

Was ist einer Gesellschaft und einer Stadt der Sport wert? Damit diese Frage trotz der aktuellen Lage nicht komplett in den Hintergrunde gerät, schaut die SZ/BZ auf Werte, die vielleicht höher anzusiedeln sind als Höhen und Weiten. Folge zwei dieser Artikelreihe trägt den Titel „Schutz“. Die Judoabteilung des VfL Sindelfingen ist dafür ein Paradebeispiel.

1791 Liegestütze in 60 Minuten. Das sind alle 2,01 Sekunden eine. Eine Stunde lang. Hoch und runter. Das klingt irgendwie irreal und ist ein ganz schön starkes Stück. Fabian Hässner hat es abgeliefert und war dabei alles andere als allein auf Pumpstation. Ganz im Gegenteil, eine ganze Abteilung ist angesprochen, und viele machen mit.
Die kräftezehrende Stunde ist eine der schlauen Ideen der Judokas des VfL Sindelfingen. Mal wieder und wie so oft stellen sich die Kämpfer auf neue Gegebenheiten ein. So, wie sonst auf den Gegner, um sich dessen Kraft zunutze zu machen. Oder auf den umkämpften Markt, um mit zielgerichteten Kräften und unter anderem hauptamtlichen Trainern eine äußerst erfolgreiche Nachwuchsarbeit umzusetzen. Und jetzt eben auf den Virus, der so manche Strukturen des Sports anfällt.
Die VfL-Judokas wollen auch in diesen Zeiten stabil bleiben, um ihre Mitglieder bei Laune zu halten, „und damit auch unsere beiden hauptamtlichen Trainer zu schützen“, sagt Elena Zein. Denn auf Beiträge sind alle angewiesen. Im Fünferteam haben sie sich ein virtuelles Mitmach-Konzept ausgedacht, das über die mittlerweile gängig gewordenen Online-Trainings hinaus geht, die ganze Palette des Judo-Sports abdeckt, und somit unter anderem Thomas Wild und Frixos Raidos den Job sichern.
Eselsgeduld und Engelszungen
Die beiden sind ausgesprochen wertvoll für den VfL Sindelfingen, und das nicht nur wegen ihrer sportlichen Reputation. Frixos Raidos hat alle größeren Turniere gekämpft. Die Olympischen Spiele von Athen verpasste er nur wegen einer Verletzung, dafür war er Video-Analyst für Ilias Iliadis bei dessen Olympia-Gold. Thomas Wild war unter anderem Bundesligakämpfer, hatte sich sogar für Deutsche Meisterschaften qualifiziert und begleitete als Landestrainer in Hessen etliche Athleten auf dem Weg in Nationalmannschaften.
So viel zur Referenzliste, die Herzen und die Werte sind jedoch bei weitem größer. Nicht nur in der Ausbildung auf den Judomatten im Glaspalast, sondern auch im Einsatz in den Kindertagesstätten. In acht Sindelfinger Einrichtungen und einer weiteren in Aidlingen geht es rund, weil Thomas Wild und Frixos Raidos mit Eselsgeduld, Engelszungen und klaren Blicken die Kleinsten trimmen. Jeden Morgen, immer woanders.
Auch hier spielt das Thema Schutz eine große Rolle. Nicht nur, weil die Profis den Kindern beibringen, wie sie sich selbst schützen können. Sondern, weil diese so viel mehr lernen als hinzufallen, aufzustehen und einen Kontrahenten zu verknoten. Judowerte wie Wertschätzung und Ehrlichkeit, Respekt oder Bescheidenheit stehen ebenfalls auf dem Lehrplan, um die ganze Fülle der Sportart zu präsentieren. Aber auch, um damit so etwas wie einen Schutzmantel über die Eleven zu legen.
Später, beim VfL, gehört das alles im wahrsten Sinne des Wortes zur Tagesordnung. An allen fünf Tagen der Woche läuft das Training parallel in den beiden Judohallen. Um 15 Uhr geht es los, um 21 Uhr beginnt die letzte Einheit. Es sind immer mindestens drei Trainer dabei, um einzugreifen, zu korrigieren, zu feilen, aber auch zu schützen. Denn die Sportler sollen vom Steppke bis zum Zweitligateam der Männer gut aufgehoben sein. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. 500 Mitglieder legen ihren Fortschritt somit in die Hände der beiden hauptamtlichen und elf weiteren, ehrenamtlichen Trainer.
Fünf Köpfe für fünf Tage
Das heißt, sie tun das normalerweise, aber derzeit ist eben alles anders. Was tun? Wenn der Weg ins Training nicht gestattet ist, dann kommt das Training eben nach Hause. Um die Umsetzung kümmert sich ein Fünferteam mit Simon Kristen, Elena Zein, Sandra Kristen, Chris Behr und René Schneider. Wichtig ist, das täglich etwas passiert auf der Facebook-Seite der Abteilung, und zwar mit festem Rahmen. Für den Montag arbeitet Simon Kristen neue Trainingspläne aus, dienstags gibt es Fitnessrezepte von Elena Zein, der Mittwoch und der Freitag sind flexibel, was dazu führt, dass die Mädels der Truppe gerne auch einmal ein Bauch-Beine-Klopapier-Workout posten.
Der Donnerstag wiederum ist der feste Challenge-Tag. Immer wieder gibt es neue Herausforderungen, unter anderem diesen Liegestützwettbewerb, der bei Fabian Hässner zu einer unglaublichen Zahl von 1791 geführt hat. Dabei muss es soweit doch gar nicht gehen, die Rückmeldungen sind klasse. So schreibt Birgit Kuhn: „Bei uns ist der Trainingsplan fester Bestandteil des Tagesablaufs. Morgens um 7.15 Uhr trifft sich die ganze Familie zum Ausdauertraining. Fahrrad, Joggen oder auch – abweichend vom Plan – Zumba. Dann Frühstück und für alle Homeoffice. Und um 17 Uhr steht Krafttraining auf dem Plan, wiederum für alle, also halt jeder so wie er kann. Das machen wir jeden Tag außer Mittwoch, da ist frei. Ich hatte noch nie so viel Muskelkater.“
Den Schutzschirm, den die Abteilung in diesem Fall spannt, nehmen die Mitglieder der Judoabteilung des VfL Sindelfingen alle gerne an.
Bild: Fabian Hässner pumpt und pumpt.
Quelle: SZ/Bz-Online