Hauptverein: Corona und immer neue Bürokratiemonster

Hauptverein: Corona und immer neue Bürokratiemonster

Dr. Heinrich Reidelbach, Präsident des VfL Sindelfingen, spricht über immer neue Bürokratiemonster und den großen Wert des Ehrenamts

Nach dem Schock im März und dem Corona-Lockdown hatten sich Sportvereine, Haupt- und Ehrenamtliche mit kreativen Ideen mühevoll aufgerappelt, mussten sich dabei aber auch immer wieder auf neue Bedingungen einstellen. Es gab Lichtblicke, die Sportler kehrten zurück, aber jetzt sind wieder dunkle Wolken aufgezogen. Um nicht zu sagen: Für manche ist es zappenduster. So muss es nicht bleiben.

Die SZ/BZ hat bei dem Präsidenten des VfL Sindelfingen, Dr. Heinrich Reidelbach, nachgehakt, wo es derzeit am schwierigsten ist und wie man aus der Nummer wieder rauskommt.

Ist der zweite Lockdown schwieriger als der erste?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Ja. Vor allem von der Akzeptanz her. Im Frühjahr und im Sommer haben wir gelernt, mit dieser völlig neuen Situation umzugehen. Wir haben es verhältnismäßig schnell geschafft, wieder Sportangebote zu machen. Schnell war klar, dass unseren Mitgliedern und vor allem den Kindern der Sport unheimlich fehlt, darauf konnten wir reagieren. Jetzt ist die Sache wesentlich schwieriger.“

Warum?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Weil wir dachten, wir haben doch alles richtig gemacht. Unsere Ehrenamtlichen haben so viel Energie hineingesteckt, Riegen und Gruppen umstrukturiert, Hygienekonzepte erstellt und so weiter. Das hat doch alles funktioniert. Mir ist kein einziger Fall bekannt, in dem sich die Mitglieder beim Sport angesteckt hätten. Nirgends ist im Sport selbst ein Hotspot entstanden, nicht im Training und auch nicht im Wettkampf. Und trotzdem ist jetzt wieder alles dicht. Das demotiviert die Übungsleiter, Trainer und alle anderen Ehrenamtlichen unheimlich.“

War tatsächlich alles richtig? Die Infektionszahlen sind hoch wie nie.

Dr. Heinrich Reidelbach: „Ja, aber man muss immer hinterfragen, wo sie herkommen. Sicher nicht aus dem Vereinssport heraus. Und dann schmerzt es unheimlich, wenn man sich Vergleiche antut.“

“Der Sport hat eine große Bedeutung für die Gesundheit und das soziale Leben in der Gesellschaft. Ob man das systemrelevant nennen möchte, darüber lässt sich streiten.”

Was meinen Sie damit?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Zum Beispiel den Schulsport. Der ist nach wie vor möglich. Aber ich frage mich ernsthaft: Was ist da der Unterschied? Beides hat Hygienekonzepte, das eine geht, das andere nicht. Es war wohl eine politischen Entscheidung, die Schule als systemrelevant einzustufen. Es ist ja grundlegend richtig, die Schulen offen zu lassen. Aber insgesamt ist das nicht zu Ende gedacht. Und am Ende frustriert das die Ehrenamtlichen.“

Ist der Vereinssport systemrelevant?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Er hat eine große Bedeutung für die Gesundheit und das soziale Leben in der Gesellschaft. Ob man das jetzt systemrelevant nennen möchte, darüber lässt sich streiten. Aber er ist sehr wichtig, und deshalb sollte man ihn auch ermöglichen.“

“Es gibt von Woche zu Woche neue Veränderungen, mit denen man sich herumschlagen muss. Das geht an die Substanz.”

Sie sprechen von frustrierten Ehrenamtlichen. Was demotiviert denn besonders?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Die Lage ist nicht statisch, es gibt von Woche zu Woche neue Veränderungen, mit denen man sich herumschlagen muss. Das geht an die Substanz. Dazu kommt das Spannungsfeld zwischen dem, was Politiker entscheiden und was Gerichte wieder kippen. Man kann sich eigentlich auf nichts mehr verlassen.“

Haben Sie das Gefühl, dass es insgesamt ein Konzept gibt, wie die Politik mit dem Sport umgehen will?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Nein.“

Wie soll sich die Situation da verbessern?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Ich habe die große Hoffnung, dass es der Sport schafft, seine Stellung in der Gesellschaft deutlicher zu machen.“

Wie?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Indem wir unsere Stimme erheben.“

Vielleicht gehört es zum Sport, mit Rahmenbedingungen umzugehen und das Beste daraus zu machen. Also: nicht lamentieren, sondern anpacken wie in einem Wettkampf.

Dr. Heinrich Reidelbach: „Das ist sicher so, aber vielleicht nicht immer der richtige Weg. Nicht zu mucken hat dazu beigetragen uns in diese Situation zu bringen. Wenn jemand auf der Straße war, dann waren das Fußballfans, die nicht mehr ins Stadion dürfen. Das meine ich nicht. So wie sich jetzt die Tennisabteilung gegen den Humbug mit nur zwei Spielern pro Tennishalle wehrt, ist es richtig. Und da muss auch noch mehr von den Sportverbänden kommen.“

Fehlt die Lobby?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Man muss nur schauen, wo der Sport politisch angegliedert. Irgendwo im Innenministerium, aber die haben maximal den Leistungssport und die Medaillen auf dem Schirm, aber nicht die Amateure.“

Was sind denn ganz konkret die größten Probleme, die auf Sie im Hauptamt und auf die Ehrenamtlichen einprasseln?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Kurz gesagt, ist es dieses unfassbare Bürokratiemonster. Wir hatten schon in den letzten Jahren damit zu kämpfen, ich sage nur Datenschutzgrundverordnung, Aufzeichnungspflichten beim Mindestlohn und Kinderschutz. Aber was da jetzt passiert, ist nicht in Worte zu fassen. Wir haben mal nachgezählt, wie viele Corona-Verordnungen umgesetzt werden mussten seit dem 16. März, und wir waren geschockt.“

“Das waren alleine 28 Grundverordnungen, dazu 14 Sportverordnungen, also jede zweite Woche etwas Neues.”

Wie viele waren es denn?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Das waren alleine 28 Grundverordnungen, dazu 14 Sportverordnungen, also jede zweite Woche etwas Neues. Dass muss man alles lesen, verstehen, weitergeben und dann umsetzen. Manchmal haben sich nur zwei Sätze unterschieden, aber diese muss man erst einmal finden.“

Haben Sie das überhaupt alles verstehen können?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Ich bin da ganz ehrlich. Ich habe mich darauf verlassen, was mir die Anne zusammengefasst hat (Anne Köhler, Referentin der Geschäftsführung beim VfL Sindelfingen, Anmerkung der Redaktion). Diese Verordnungen kamen gerne mal kurz vor dem Wochenende und hatten ab Montag dann Gültigkeit. Wenn diese Zeit etwas Vernünftiges gebracht hat, dann, dass wir mit unseren Mitgliedern unheimlich oft und nah im Kontakt waren.“

Und alle offenen Fragen wurden übers Wochenende geklärt?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Die meisten. Da muss man dem Sindelfinger Sportamt ein dickes Lob aussprechen. Das war immer erreichbar, und wenn es dort mal nicht die entsprechende Fachexpertise gab, haben die Mitarbeiter beim Ministerium nachgefragt.“

Und die Abteilungen haben immer wieder neue Vorgaben umgesetzt.

Dr. Heinrich Reidelbach: „Ja, Hygienekonzepte erstellt, Listen geführt, und so weiter, unheimlich kreative Ideen eingebracht, Onlinetrainings auf kürzestem Wege entwickelt.“

Haben diese kurzen Wege funktioniert, weil da niemand im Weg stand?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Genau so ist es. Manchmal muss man die Menschen machen und den gesunden Verstand arbeiten lassen. Dann gibt es ganz tolle Lösungen.“

“Es ist meine allergrößte Befürchtung, dass das Ehrenamt resignieren könnte und uns die Mitglieder davonlaufen.”

Wie schätzen sie den Wert des Ehrenamts ein?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Unendlich hoch, das kann man gar nicht genug betonen. Ganz zu schweigen, was da für Kosten entstehen, wenn ich an die ganzen Desinfektionsmittel und Plexiglaswände und was auch noch alles denke. Es ist meine allergrößte Befürchtung, dass das Ehrenamt resignieren könnte und uns die Mitglieder davonlaufen. Das darf nicht passieren, denn diese Leute sind für uns als Verein und somit auch für die Gesellschaft wahnsinnig wichtig.“

Kann alles noch zu einem guten Schluss kommen?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Nur dann, wenn jetzt auch nachvollziehbare, gute Lösungen kommen und man sich darauf auch verlassen kann. Wir haben jetzt gerade eine ganz entscheidende Zeit dafür. Jetzt im November entscheidet sich sehr vieles. Wir müssen mehr Flexibilität bekommen, um verantwortungsvoll Sport anbieten zu können. Der Sport hat gezeigt, was er kann. Nämlich mit dieser Situation klar kommen. Das hat alles schon einmal funktioniert. Und wenn man uns lässt, wird das wieder funktionieren.“

Was ist, wenn das nicht passiert?

Dr. Heinrich Reidelbach: „Dann wird das aufs Ehrenamt gestützte System zusammenbrechen und wir werden nicht mehr wie bisher in dieser Form Sport für 9000 Mitglieder anbieten können.“

Bild: VfL-Präsident Dr. Heinrich Reidelbach und Anne Köhler, Referentin der Geschäftsführung, mit den Corona-Sportverordnungen. Die Grundverordnungen haben sie sich für dieses Foto gespart.Bild: Wegner

Quelle: SZ/BZ-Online