Handball: HSG Böblingen/Sindelfingen ohne Anja Weinhardt: Daran muss man sich erst noch gewöhnen

Aus der Handball-Szene.

Während die Fußball-EM auf Touren kommt und die Amateurkicker Sommerpause machen, geht es bei den Handballern schon wieder los.
Die Frauen der HSG Böblingen/Sindelfingen nehmen ohne Anja Weinhardt den Betrieb wieder auf. Das ist schon ziemlich ungewohnt.

Am Montagabend bittet Mischa Herok die Handballerinnen der HSG Böblingen/Sindelfingen um 20 Uhr in der Sindelfinger Sommerhofenhalle zur ersten Trainingseinheit. Der HSG-Trainer will sich dabei mittels eines Leistungstests ein erstes Bild vom physischen Zustand seiner Schützlinge machen. „Ich freue mich, dass es wieder losgeht, und ich bin gespannt, wie sich das Team in den kommenden Wochen entwickeln wird“, sagt Mischa Herok.

In seine Vorfreude mischt sich aber auch eine gehörige Portion Wehmut. Denn vier seiner Spielerinnen sowie Co-Trainerin Andrea „Lela“ Dieterle haben Anfang Mai nach dem letzten Württemberg-Liga-Spiel aus verschiedenen Gründen einen Schlussstrich gezogen. Darunter in Anja Weinhardt das „Hirn und Herz dieses Teams“, so Mischa Herok. „Wir haben eine echte Persönlichkeit verloren, ein Vorbild, eine Anführerin. Auf Anja war immer Verlass, egal ob im Training oder im Spiel. Ich vermisse sie jetzt schon.“

Die 32-Jährige selbst hat ein Jahr mit sich gerungen, ehe sie ihre Handballschuhe an den berühmten Nagel hängte. „Der Abschied ist mir nach 27 Jahren Handball nicht leicht gefallen“, war Anja Weinhardt lange Zeit hin- und hergerissen. Von der Richtigkeit ihrer Entscheidung ist sie aber vollauf überzeugt. Zumal diese auch wohl überlegt war. Auf immer wieder kehrende Gerüchte, diesen Entschluss vielleicht doch noch rückgängig zu machen, reagiert Anja Weinhardt mit einem Augenzwinkern. „Man soll ja nie ‘nie‘ sagen, aber Stand jetzt gibt es kein Zurück.“

Es war zu verlockend

Zu verlockend sei die neu gewonnene Freizeit, die nicht mehr durch Training sowie Spiele am Wochenende fremdbestimmt wird. „Ich genieße die Ungebundenheit in vollen Zügen. All die bisherigen Verpflichtungen sind weg.“ Der Sport im Gesamten werde aber auch in Zukunft nicht zu kurz kommen. „Mein Fokus liegt nun auf Joggen, Fitness, Schwimmen und Fahrradfahren. Aber auch hier versuche ich für mich eine eigene Routine zu finden.“

Den Handball vermissen wird Anja Weinhardt dennoch. „Mein Herz schlägt einfach für diese Sportart“, betont die Kreisläuferin. Der Zusammenhalt und die Dynamik, die sich in einem Mannschaftssport entwickeln, seien mit keinem Einzelsport vergleichbar. Deshalb werde ihr auch das Miteinander mit ihren Teamkolleginnen fehlen. „Auch wenn wir im Team durchaus sehr unterschiedlich waren – schon allein aufgrund des Alters, Charakters, Berufs und sonstiger Interessen –, hat uns schlussendlich die Liebe zum Handball verbunden.“

Der Coach hat gerne genervt

Dass Mischa Herok in den vergangenen Wochen „alles Menschenmögliche“ unternommen hat, um seine Spielführerin von einem „Rücktritt vom Rücktritt“ zu überzeugen, will er gar nicht verheimlichen. „Ich habe Anja in schöner Regelmäßigkeit genervt“, gibt der HSG-Trainer lachend zu. Und das nicht nur, weil sie ihm als Spielerin fehlen wird. „Ich vermisse mehr noch den Menschen dahinter. Anjas Art war einmalig, sie ist eine natürliche Anführerin. Ich kann mich auch an kein einziges komplett schlechtes Spiel von ihr erinnern.“

Wie sich die Hierarchie im Kader nach dem Abgang der langjährigen Kapitänin neu gestalten wird, darauf ist auch Mischa Herok gespannt. Kandidatinnen gebe es zwar einige, „die Fußstapfen von Anja sind aber riesengroß. Ich denke, dass wir das auf mehrere Schultern verteilen und die entstandene Lücke im Kollektiv schließen werden.“ Saskia Kohler, mit der Anja Weinhardt einen starken Mittelblock in der Abwehr bildete, ist eine Kandidatin. Die beiden Rückraumspielerinnen Lisa Baumgartl und Svenja Hille ebenso. „Auch die jüngeren Spielerinnen werde ich mit ins Boot holen“, sagt der HSG-Coach.

Anja Weinhardt wird all das nur noch aus der zweiten Reihe verfolgen. Bei den Heimspielen wird sie ihr Ex-Team auf der Tribüne lautstark unterstützen und dabei in Erinnerungen schwelgen. „Über all die Jahre war es immer etwas Besonderes, dass ich die vollste Unterstützung meiner Familie hatte. Vor allem meine Mama war bei nahezu allen Spielen dabei. Auch meinem Bruder Michael, der eigentlich in Mannheim wohnt, war kein Weg zu weit, um bei den Spielen dabei zu sein. Die Gewissheit, solch einen Support gehabt zu haben, lässt mich nicht nur mit einem weinenden, sondern auch mit einem lachenden Auge auf meine Handballkarriere zurückblicken.

Edip Zvizdiç berichtet seit Jahren über die Spiele der HSG Böblingen/Sindelfingen und ebenso über die Geschichten, die es dazwischen gibt.

Bild: Anja Weinhardt nimmt Maß im Trikot der HSG Böblingen/Sindelfingen. Dieses Bild wird es nicht mehr geben. Bild: Zvizdiç

Quelle: Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung Online