Berlin sucht Antworten in Sindelfingen.
Kanzlerkandidat Friedrich Merz macht sich für die Olympia-Bewerbung stark, die CDU/CSU lädt Anne Köhler, Geschäftsführerin des VfL Sindelfingen, und ihren Böblinger Kollegen Harald Link ein zum Sport-Kongress. In Berlin legt die 34-Jährige auf dem Podium vor hochrangigem Publikum den Finger in die Wunden.
Fernsehdeutschland jammert über miserable Medaillenspiegel. Andere Nationen nutzen den finanziellen Wettbewerbsvorteil. Sportunterricht steht auf Streichlisten und der Wettkampfgedanke verliert generell das Rennen. In welche Richtung steuern Spitzen- und Breitensport? Braucht eine moderne Gesellschaft überhaupt Topathleten? Hat die Basis eine Chance, etwas zu bewegen? Oder anders: Wie gut ist die Sportnation Deutschland?
Anne Köhler formuliert Antworten beim von CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz anmoderierten Kongress der Bundestagsfraktion im Paul-Löbe-Haus in Berlin. Die Geschäftsführerin des VfL Sindelfingen hat zusammen mit ihrem Kollegen von der SV Böblingen, Harald Link, die Einladung in die Hauptstadt nicht nur gerne angenommen, sondern stellt sich vor vollem Haus den Themen. Ihr ehemaliger Schulkamerad aus Gräfenhainichen, Sepp Müller, heute Bundestagsabgeordneter und vertreten in Gesundheits- und Sportausschuss, hatte sie für das Podium ausgewählt. Das Motto für sie, frei interpretiert: Was können wir Vereine dafür, also für das Dilemma des Spitzensports auf internationaler Bühne? Die Essenz: Sie könnten ein ganze Menge zum Guten wenden, wenn man die Vereine nur lässt und sie auch ernst nimmt.
Sorgen und Nöte
Der Tag in Berlin vermittelt genau dieses Gefühl. Endlich, möchte man anmerken. „Es ist wirklich eine Ehre für mich und eine tolle Sache an sich, dass Spitzenpolitiker sich bei der Basis erkundigen“, sagt Anne Köhler. Sie spricht nicht nur für ihren mit 9000 aktiven Mitgliedern bärenstarken Verein, sondern kennt auch die Nöte der Kleineren. Jahrelang war die 34-Jährige Sprecherin der Landessportjugend und in dieser Form auch eine der Vizepräsidentinnen des Württembergischen Landessportverbands.
Dabei ist es nicht nur die CDU/CSU, die das Thema parteipolitisch auf den Schirm nimmt. Am 4. November geht es für Anne Köhler erneut nach Berlin auf Einladung von Jasmina Hostert, Bundestagsabgeordnete aus dem Kreis Böblingen. Die aktuelle Einladung gab es für sie und Harald Link jetzt von deren CDU-Kollegen Marc Biadacz.
Mehr Förderung, weniger Medaillen
„Sport begeistert Menschen überall auf der Welt. Der Breitensport ist ein ganz wichtiges Element, das unsere Gesellschaft maßgeblich zusammenhält. Er ist aber auch die Grundlage für den Leistungssport, der uns international repräsentiert. Das gilt auch für uns im Landkreis Böblingen“, sagt Marc Biadacz, der „großartige Haupt- und Ehrenamtler sowie Sportler, die unsere Heimat national und sogar international, wie zuletzt bei Olympia, bestens vertreten“ lobt und meint: „Wir können stolz auf den Sport bei uns sein.“
Letzteres ist aber längst kein Selbstläufer, wie ein Vergleich zeigt, der ebenfalls bei den Diskussionen in Berlin gezogen wird: „Die Sportförderung hat sich im Vergleich zu Barcelona 1992 verdoppelt, die Medaillenausbeute halbiert“, sagt Anne Köhler. Es stellen sich Fragen: Reicht das Geld, kommt es an den richtigen Stellen an? Und wie funktioniert das System überhaupt?
Die Fachleute sind sich einig: Es fußt vieles auf dem Prinzip Zufall und es fehlt einfach ein Gesamtkonzept. Wenn Gesundheitsminister Karl Lauterbach durch ein „Gesundes-Herz-Gesetz“ Risikofaktoren von Herz-Kreislauf-Erkrankungen möglichst früh erkennen und bekämpfen will, dann ist das gut. Wenn sich das über den Präventionstopf finanziert und somit sportliche Betätigung gestrichen wird für medikamentöse Behandlungen, „dann ist das ärgerlich. Sport muss im Ganzen gedacht werden“, sagt Anne Köhler. Pille und Spritze statt Laufschuh und Badehose, das darf nicht sein.
Trainer und Betreuer
Ein anderes Beispiel: Einen gemeinsamen Ansatz, das Ehrenamt zu stärken, gibt es nicht. Vereinzelt testen Bundesländer die Ehrenamtskarten, anderswo dümpeln Kampagnen, und um Pauschalen für Ehrenamt und Übungsleiter muss man immer wieder aufs Neue verhandeln. Es geht dabei um Anerkennung und symbolische Hilfen, um das Fundament zu stärken, auf dem der gesamte Apparat steht. Die Realität: Es fahren immer die gleichen, wenigen Eltern ihre Kinder zum Auswärtsspiel. Für Arbeitseinsätze zum Wohle einer Abteilung tragen sich immer die üblichen Verdächtigen ein – wenn überhaupt. Und eine Trainerin betreut nicht nur ihre Schülerinnen bei der Tanzvorstellung, sondern backt vorher auch noch Kuchen und räumt hinterher auf, während Eltern den Tag genießen. Alle jammern mit, den verbindenden Ansatz gibt es nicht.
45 Minuten Zeit hat das Podium, Anne Köhler hätte zu jedem ihrer Themen „stundenlange sprechen können“. Das Wesentliche kann sie loswerden. Zum Beispiel gerade den Wunsch nach zentralen Reglern wie einem Sportministerium. In dieses Horn stößt auch das zweite Podium, das vor allem aus direkten Vertretern und Strategen aus dem Spitzensport besteht. Natürlich sprechen die Experten auch über die Bedeutung funktionierender Sportstätten. Hier hakt es selbst in einer selbsternannten Sportstadt wie Sindelfingen.
Die Stadt steckt viel Geld in die Anlagen, hat zuletzt auch das für viele Millionen Euro sanierte Floschenstadion wiedereröffnet. Aber in manchen Hallen können die Athleten nicht einmal verlässlich warm duschen. Die längst versprochenen Freilufthallen gibt es auch noch nicht, weshalb Fußballer im Winter unterm geschlossenen Dach bleiben und für die Rhythmische Sportgymnastik kein Platz ist.
Schule und Steuern
Und das ist noch nicht alles: Der Sport ist nicht im Lehrplan zementiert, sondern gerne und beliebtes Streichfach. Durch das zweite Jahressteuergesetz würde der Vorsteuerabzug fallen, der insbesondere bei finanzintensiveren Bau- und Investitionsprojekten ein wesentlicher Bestandteil der Finanzierung ist. Und über Bürokratie muss man eigentlich gar nicht erst sprechen.
Eine Erkenntnis des Normenkontrollrats Baden-Württemberg macht deutlich, was hier Sache ist. Anne Köhler hat beim VfL Sindelfingen mit ihrem Team schon etabliert, dass über eine zentrale Mitgliederverwaltungen und digitale Erfassungen den einzelnen Abteilungen Arbeit abgenommen wird. Die Zahlen, die sie nennt, sind aber deutlich: „Der bürokratische Aufwand eines mittelgroßen Vereins mit 300 bis 2000 Mitgliedern beträgt 337 Stunden pro Jahr. Das macht 6,5 Stunden pro Woche und verursacht mit allen Bausteinen von der Hardware bis zum Datenschutz Kosten von 15.000 Euro. Im VfL Sindelfingen vereinen wir in unseren 28 Abteilungen fünf mittelgroße Vereine.“
Alle wollen zu Frau Krafzik
Damit ist zumindest angeschnitten, was die Basis braucht, um zu funktionieren. Aber was hat das mit Medaillen bei Olympia und Weltmeisterschaften zu tun? Und braucht es die Weltklasse überhaupt, wenn der Breiten- und Gesundheitssport so wichtig ist? Die erste Frage ist leicht beantwortet. Je mehr Menschen Sport treiben und in den Wettkampf gehen, desto größer ist die Auswahl und desto hochklassiger der Wettbewerb.
Die zweite beantwortet Anne Köhler mit einer Anekdote der VfL-Leichtathletin Carolina Krafzik, beim Talk im Sparkassenforum erzählt hatte: Die Top-Sportlerin ist eigentlich Grundschullehrerin. Als sie von Olympia zurückkehrte, gab es eine Petition, damit alle Schüler wenigstens einmal von Frau Krafzik im Sport unterrichtet werden und nicht nur die Klasse, in der sie Klassenlehrerin ist. „Wir brauchen Vorbilder“, sagt Anne Köhler. Das ist leicht erklärt, alleine wenn man an den Tennis-Boom denkt, den Boris Becker und Steffi Graf einst in Deutschland auslösten. Damit ist der Zugang zum Verein geschaffen. Dass die vereinseigenen Mittel nicht für Spitzensport ausreichen, ist aber selbsterklärend.
Ja zu Olympia 2040
Eine Botschaft der Parteifunktionäre im Paul-Löbe-Haus ist aber klar: Schon bei der Anmoderation stellt sich Friedrich Merz ganz klar hinter eine deutsche Bewerbung für Olympia 2040. Und Marc Biadacz sagt: „Das kann eine große Chance für uns sein. Ich bin ein klarer Unterstützer dieser Bewerbung. Auch, weil ich weiß, wie groß die Begeisterung in Böblingen bei den Olympischen Spielen 1972 gewesen sein muss, als sechs Handball-Spiele bei uns stattgefunden haben.“ Wenn es dann so kommt, schauen auch alle wieder auf den Medaillenspiegel.
Die Referenten:
Friedrich Merz (Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag), Kristina Vogel (erfolgreichste Bahnradrennsportlerin der Welt, seit 2018 nach einem Trainingsunfall im Rollstuhl), Sepp Müller (stellvertretender Vorsitzender für Gesundheit, Neue Länder, Sport und Ehrenamt), Friedhelm Beucher (Präsident Deutscher Behindertensportverband und Nationales Paralympisches Komitee), Bob Hanning (Geschäftsführer Füchse Berlin), Jens Lehmann (Sportausschuss, Verteidigungsausschuss), Christina Wassen (Deutsche Meisterin im Wasserspringen und Olympia-Teilnehmerin), Svenja Brunckhorst (Olympiasiegerin im 3×3-Basketball 2024), Thomas Weikert (DOSB-Präsident), Stephan Mayer (Vorsitzender der Arbeitsgruppe Sport und Ehrenamt), Jörg Ammon (Präsident Bayerischer Landessportverband), Philipp Hickethier (Leiter Sport und Bildung Alba Berlin), Astrid Reinhardt (Vorstand TV Roringen), Lisa Währer (Co-Founder und Managing Director FC Viktoria Berlin).
Bild: Am Rande des Sportkongresses unterhält sich Anne Köhler mit Kristina Vogel. Die erfolgreichste Bahnradfahrerin der Welt sitzt seit einem Trainingsunfall 2018 im Rollstuhl.
Bild: CDU/CSU-Bundestagsfraktion / Michael Wittig
Quelle: Sindelfinger Zeitung/ Böblinger Zeitung online