Leichtathletik: „Stadion war wie ein Weihnachtsgeschenk“

Seit Freitagabend ist Markus Graßmann nicht mehr Abteilungsleiter der Sindelfinger Leichtathleten. Nach zwölf Jahren räumt er den Platz für Jürgen Kohler, den die Mitglieder zu ihrem neuen Chef wählten.
Im Gespräch mit der SZ/BZ zieht der 52-jährige Markus Graßmann Bilanz.
Sie rücken als Finanzvorstand in den Hauptverein des VfL Sindelfingen auf. Wäre es eigentlich möglich, parallel bei den Leichtathleten weiterzumachen?
Markus Graßmann: „Explizit verboten ist das nicht, aber es ist undenkbar.“
Warum?
Markus Graßmann: „Zunächst ist da der Aufwand. Alleine die Präsenzanforderung bei den Leichtathleten ist enorm. Da muss man sich nur die unglaubliche Wettkampfdichte anschauen, von der Jugend und den Junioren zu den Aktiven und Senioren, die Meetings von der Meisterschaft zu den Werfertagen, von der Kreis- über die Regional- bis zur Bundesebene. Teilweise geht es quer durch Deutschland, dazu sind wir ständig auch selbst Veranstalter.“
Gäbe es auch inhaltliche Reibungspunkte?
Markus Graßmann: „Als Finanzreferent bin ich Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes im Hauptverein. Wir tragen Verantwortung für den gesamten VfL. Da verträgt es sich nicht, parallel Einzelinteressen einer Abteilung zu vertreten. Hier ist absolute Neutralität gefordert.“
Es roch modrig und war bedrückend
Sie wollen neutral bleiben, aber gehen der Abteilung sicher nicht komplett verloren?
Markus Graßmann: „Nein, das bestimmt nicht. Es gibt ja auch Themen wie das Stadion, an dem ich seit Jahren intensiv mitarbeite und das ich jetzt in anderer Form mit bearbeite. Die Zusammenarbeit mit dem Sport- und Bäderamt funktioniert inzwischen hervorragend, das berichtet VfL-Geschäftsführer Roland Medinger aus seinen Sitzungen mit der Lenkungsgruppe. Ich freue mich unheimlich über den Sanierungs-Beschluss von 2016, den der Gemeinderat mit überwältigender Mehrheit fasste. Das war wie ein Weihnachtsgeschenk. Übrigens auch, dass der Glaspalast jetzt offiziell ein Denkmal ist, das nicht abgerissen werden darf. An diesem Thema war ich seit Jahren dran. Als das letztes Jahr verkündet wurde, war ich wirklich froh. Diese beiden Sportstätten sind für die Leichtathleten existenziell.“
Beide standen auf der Kippe.
Markus Graßmann: „Vor allem hat sich manches wahnsinnig lang gezogen. Ich weiß noch genau von unserer ersten Besprechung, als es nach Dieter Gaugers Anfrage konkreter wurde, ob ich die Abteilung übernehmen könnte. Wir trafen uns im Februar 2005 in einem surreal wirkenden Nebenraum, dem ehemaligen Pressezimmer. Ich hatte das Stadion 10 Jahre nicht betreten, war ja lange in Berlin. Es roch dort modrig, war unheimlich bedrückend. Ich habe mein Stadion kaum wiedererkannt. Der Dieter meinte: ‚Das wird alles neu gemacht.‘ Recht hatte er, aber ich hatte nicht im Traum daran gedacht, dass es sich so lange zieht.“
Welches ist das nächste Großprojekt, das auf der Agenda steht?
Markus Graßmann: „Für den Gesamtverein steht mit der Sportwelt-Erweiterung eine große Investition an. Auch das wird ausgesprochen spannend.“
Sie traten vor zwölf Jahren an, um die Leichtathleten auf eine breitere Basis zu stellen. Wie fällt da die Bilanz aus?
Markus Graßmann: „Die SZ/BZ hatte damals geschrieben, ‚mehr Vielfalt für den Läuferclub‘. Das hat mir wirklich gut gefallen und traf genau den Kern. Bis dahin war der VfL vor allem auf der Bahn ausgesprochen erfolgreich, dabei gibt es keine andere Sportart mit solch einer Vielfalt. Das macht die Leichtathletik unverwechselbar. In den letzten Jahren hat sich das Sindelfinger Bild komplett verändert.“
Niko Kappel – das war der Wahnsinn
Nennen Sie bitte Beispiele.
Markus Graßmann: „Die Liste ist lang. Bei den Werfern sorgten Namen wie Kappel, Burkhardt, Hahn, Schmidt, Dahm, Reichle, Bayer, Bundschuh oder Wenk für Aufsehen. Bei den Springern Steinkamp, Uhrig, Stauss, Schassberger, Kraft, Weiler oder mit Florian Gaul aktuell ein absoluter Weltklasse-Mann. Diese Liste ist bei Weitem nicht vollständig. Es gibt zig Medaillen quer durch alle unsere Disziplinen – natürlich auch im Laufbereich. Man denke nur an Hildebrand, Lindenmayer, Oehler, Almaz, Wiesner, Bergdoldt oder den jungen Velten Schneider, der vor wenigen Wochen bei den deutschen Jugend-Hallenmeisterschaften die Silbermedaille holte.“
Was war denn der schönste Moment in den letzten zwölf Jahren?
Markus Graßmann: „Schwierig, da gab es viele. Aber sicher werde ich nicht vergessen, als ich in Nordrhein-Westfalen auf Geschäftsreise im Hotel von Jörg Niethammer nachts um eins die SMS bekam, dass Niko Kappel Gold bei den Paralympics in Rio geholt hat. Ich habe um halb sechs den Fernseher angeschaltet und im Frühstücksfernsehen lief das hoch und runter. Das war der Wahnsinn.“
Und abseits der Stadien?
Markus Graßmann: „Bestimmt der Olympia-Empfang im November, als sich Sindelfinger Athleten verschiedener Abteilungen ins Goldene Buch der Stadt eintrugen, dazu eben auch Niko Kappel. Mit Nadine Hildebrand und Tobias Dahm hatten wir zwei in Rio de Janeiro dabei, die letzte Teilnahme unseres Vereins bei Olympischen Spielen war ja die von Birgit Hamann 1996 in Atlanta, also vor 20 Jahren.“
Was zeichnet die Abteilung aus?
Markus Graßmann: „Dass wir es schaffen, sportliche Erfolge zu erringen und trotzdem so familiär zu sein. Bei unseren Sommerfesten sind Hunderte Leute da, bei Wettkämpfen packen zum Teil 80-Jährige mit an, beim Kindersportfest wuselt es in den einheitlichen, blauen Trainingsanzügen nur so. Das ist einfach schön.“
Was hat Ihnen in Ihrer Amtszeit besonders wehgetan?
Markus Graßmann: „Der Abgang von Samira Burkhardt nach Wattenscheid. Ich hatte mich die Jahre über sehr um sie bemüht. Sie war eine tolle Athletin, Junioren-Vizeweltmeisterin und Sympathieträgerin. Aber in Wattenscheid hatte sie persönliche und sportliche Perspektiven gesehen. Das war dann leider nicht zu verhindern.“
Welche Aufgabe hätten Sie angepackt, wenn Sie jetzt noch weitermachen würden?
Markus Graßmann: „Dazu will ich nichts sagen. Es ist nicht gut, dem Nachfolger reinzureden. Jürgen Kohler wird seine Sache ganz hervorragend meistern.“
In Ordnung, aber wo könnte sich der VfL noch verbessern?
Markus Graßmann: „Es ist richtig, dass sich die Abteilung mit Steffen Sattelmaier im Bereich Marketing und Sponsoren professioneller aufstellt. Wir brauchen zusätzliche Einnahmen, um die tolle Arbeit unserer Übungsleiter besser zu honorieren. Deren Aufwand ist enorm, die Trainer fahren neben den Einheiten in Sindelfingen auch nach Dortmund, Mecklenburg oder Sachsen. Außerdem wollen wir weiterhin für neue Athleten attraktiv sein.“
Und dann ist da noch das Stadion?
Markus Graßmann: „Auf das ich mich sehr freue. Hier ist unheimlich wichtig, dass es entsprechend dimensioniert wird, um zumindest deutsche Juniorenmeisterschaften nach Sindelfingen zu holen. Wir sind ein hervorragender Veranstaltungsverein, auch das gehört zur Identität des VfL Sindelfingen.“
„Das war einer der schönsten Momente meiner Amtszeit“, sagt Markus Graßmann (Zweiter von rechts) zu diesem Foto. Paralympics-Goldmedaillengewinner Niko Kappel (links) und die beiden Rio-Olympioniken Nadine Hildebrand und Tobias Dahm (dahinter) tragen sich unter den Augen von Oberbürgermeister Dr. Bernd Vöhringer ebenso ins Goldene Buch der Stadt ein wie der VfL-Bogenschütze Uwe Herter (rechts), der eine Paralympics-Medaille hauchdünn verfehlte. Bild: Wegner/A
Quelle: SZ-BZ Online