Die Sindelfinger Leichtathleten feiern im Glaspalast mit Video-Grüßen von Colin Jackson, dem Trikot von Haile Gebrselassie und dem Olympiasieger Dieter Baumann ihr 100-jähriges Jubiläum
Leichtathletik – „Das ist ein Gänsehautmoment“, sagt Hans-Jörg Zürn. Auf einer Showtreppe hat der Verlagsleiter der SZ/BZ noch keine Moderation begonnen, das ist das eine. Aber es ist vor allem die geballte Ladung Leichtathletik-Geschichte, die er selbst jahrelang als Sportredakteur begleitete und die ihm jetzt die Härchen empor stehen lässt. Die Sindelfinger Leichtathleten feiern im Glaspalast ihr 100-jähriges Jubiläum. Und damit in ihrem „Wohnzimmer“, wie an diesem Abend immer wieder zu hören ist.
Der das große Fest, das eigentlich schon am 10. Oktober 2020 hätte über die Bühne gehen sollen, geplant und dafür an allen Rädern gedreht hat, durfte es nicht mehr erleben. Herbert „Hebo“ Bohr, Grandseigneur der Sindelfinger Leichtathletik, starb dieses Jahr im Alter von 87 Jahren. Einige Minuten, kurz im stillen Gedenken und dann mit warmem Applaus, gehören „dem Mann mit dem roten Jackett“.
So führt Hans-Jörg Zürn die Gäste durch die Zeitreise. Knappe vier Stunden und damit eine länger als eigentlich geplant, läuft das Programm, das mit Robert Dinkelacker ein ehemaliger 400-Meter-Läufer eintaktete. Zwei Jahrzehnte lang war er Atlethenmanager und damit rechte Hand von Herbert Bohr beim Internationalen Hallensportfest (IHS) und sollte deshalb eigentlich nur diesen einen Programmpunkt übernehmen. „Hebo und dem VfL zuliebe“, wie er sagt, übernahm er jetzt das komplette Programm, das wegen der Pandemie einen um ein Jahr längeren Anlauf bekam. Wie es sich anfühlt, jetzt endlich auf der Bühne zu stehen? „Prima! Zumal ich von den rund 330 Gästen gefühlt 250 kenne und mit allen noch sprechen will.“
Dabei ist klar, das ein solcher Abend, der unter 2-G-Regel ungewohnt zwanglos maskenfrei abläuft, keine Solo-Show sein kann. Zig helfende Hände langen zu. Dabei dankt der Ehrenabteilungsleiter Dieter Gauger auf der Bühne ausdrücklich zwei treue Seelen, die besonders vieles stemmen: „Herzlichen Dank an Barbara Erath und Dieter Locher. Ihr seid die Stützen der Leichtathletik.“
Eine Truppe ist bei Veranstaltungen unverzichtbar: Das Ü80-Team der Blau-Weißen, seit vielen Jahren für den Aufbau der Wettkampfanlagen zuständig. Bekannt geworden als Ü70-Team sind inzwischen fast alle Mitglieder über 80 Jahre alt. „Wir haben den ganzen Freitag mit zehn Leuten für die Feier aufgebaut und am Sonntagmittag geht es schon wieder weiter mit dem Abbau“, so das fleißige Mitglied Rolf Homann.
Eine andere Gruppe bringt der ehemalige Abteilungsleiter Markus Graßmann aufs Tableau. Der Hauptgeschäftsführer der WLSB ist beruflich und privat verhindert, schickt seine Grüße aber als Videobotschaft und bedankt sichj speziell bei den „Freunden der Sindelfinger Leichtathletik“: „Das ist eine tolle Erfindung von Herbert Bohr und Ernst Gießler.
sen berichtet Dieter Locher von fast drei Jahren Planung. „Schon 2018 haben wir diskutiert, was ins Programm kommt.“ Mit dem Tod von Herbert Bohr stand das Organisationsteam vor den Fragmenten dessen Aufzeichnungen und versuchten seine Vorstellung des Programms umzusetzen. „Wir haben alles so geplant, dass wir im Zeitrahmen bleiben, aber es gibt wohl zu viel zu erzählen“, sagt Locher, sonst bei Wettkämpfen Herr über die Zeitpläne zum zeitlichen Verzug.
Wie wichtig der VfL Sindelfingen für den Deutschen Leichtathletikverband ist, sagt dessen Präsident Jürgen Kessing. Schon 1972 schätzte er die neue Rekortanbahn im frisch renovierten Floschenstadion: „Wenn du schnelle Zeiten laufen wolltest, musstest du nach Sindelfingen.“ Wobei er als Oberbürgermeister der Stadt Bietigheim-Bissingen heute auch aus kommunalpolitischer Sicht spricht: „Investitionen in die Infrastrukltur sind unbezuahlbar. Das ist gut angelegtes Geld, das durch viele Besucher zurück kommt.“Zum Gewicht seiner Worte: Erst vor zehn Tagen ist er mit 42 von 49 möglichen Stimmen ins European Athletics Council.
Erinnerungen werden bei Philipp Pflieger wach, als er den Glaspalast betritt. Seine Karriere ist eine Sindelfinger Erfolgsgeschichte. Angefangen hat er bei den Speedys, 2016 ging er bei den Olympischen Spielen an den Start. „Ich bin seit zehn Jahren das erste Mal im Glaspalast und habe noch genau vor Augen, in welcher Ecke wir Läufer unser Lager hatten und wo unser Trainer Harry immer stand.“
Begeistert läuft Claus Regelmann, Geschäftsführer des Glaspalasts durch die Halle. „Das ist die erste Veranstaltung hier, die wieder einigermaßen normal ist und an früher erinnert.“ Zuletzt war im Glaspalast zwar abwechslungsreicher Betrieb, sogar der Gemeinderat nutzte die schier endlosen Kapazitäten, doch alles unter Corona-Begrenzungen.
Florian Gaul, Constantin Preis und Nadine Hildebrand sind laut IAAF-Punktesystem, das die Leistungen unterschiedlicher Disziplinen miteinander vergleichbar machen soll, die besten VfL-Sportler aller Zeiten. Mit seinen 5,77 Metern steht Stabhochspringer Florian Gaul knapp an der Spitze. „Constantin wird mich aber bald überholen, er hat ja noch einige Jahre“, so Gaul der 2019 seine Karriere beendete und kurz vor Schluss des Programms noch für seinen Abschied auf die Bühne darf. Die Hürdensprinterin im Ruhestand Nadine Hildebrand freut sich über ihren Spitzenplatz. „Mit meiner Bestzeit von 12,64 Sekunden kann man teilweise eine Olympiamedaille gewinnen.“
Trotz seines Vereinswechsels zum VfB Stuttgart ist Niko Kappel immer noch Stammgast, wenn es bei den Sindelfingern etwas zu feiern gibt, schließlich hat er dem VfL viel zu verdanken. „Ich hatte meine größten sportlichen Erfolge in Sindelfingen. Vom ersten Tag an war es hier wie bei einer großen Familie und trotzdem hochprofessionell“, sagt der Paralympicssieger von 2016. Dabei überzeugt er an diesem Abend als äußerst unterhaltsamer Moderator, als er die schweren Kugelstoßer des VfL auf die Bühne bittet. Trainer Peter Salzer, Tobias Dahm, Eric Maihöfer, Tizian Lauria und Simon Bayer. Dieser verrät: „Ich habe heute mehr gefrühstückt als die anderen im Saal den ganzen Tag über zu sich nehmen.“
Niko Kappel ist nicht der einzige, der das Moderatorenteam aufweitet. Velten Schneider kramt mit den VfL-Urgesteinen Alfred Wagner, Alfred Schwab und Christl Wolf in der Klamottenkiste, Bernd Koschka holt unter anderem die 400-Meter-Olympiastarter Jörg Vaihinger, Martin Weppler und Bernd Herrmann auf die Bühne. Der Sindelfinger erklärt seine damaligen Starts für Bayer Leverkusen damit, dass dort die Strukturen Anfang der 70er eben professioneller waren. Das Familiäre des VfL samt „Wurstsalat und einer oder zwei Halben nach dem Training“ habe er im Westen aber immer vermisst.
Weinliebhaber haben unter den Weinen der Fellbacher Weingärter die volle Auswahl und das mehr oder weniger Dank Hürdensprinter Stefan Volzer. Schließlich ist er Spross eines Fellbacher Winzers. „Angefangen hat es, als meine Eltern zu den Deutschen Jugendhallenmeisterschaften 2019 einen Sekt mitgenommen haben“, erzählt Volzer, erstmals nach seiner Knieoperation ohne Krücken unterwegs. Ein Schlückchen gönnt sich der Sportler indes nur in der Saisonpause.
Nicht ganz das letzte Wort, aber kurz vor dem Zielstrich des offiziellen Teils packt Constantin Preis noch einmal in Worte, was den VfL Sindelfingen seit 101 Jahren ausmacht: nicht nachlassen. Zu seinen Zielen sagt der Olympia-Halbfinalist von Tokio über 400 Meter Hürden unter anderem: „Karsten Warholm ist noch der Beste der Welt. Ich sage bewusst ’noch‘. Egal, ob es zwei, sechs oder zehn Jahre dauert, ich werde alles dafür tun.“
Dann spielt DJ Nobbe auf und Abteilungsleiter Jürgen Kohler eröffnet mit seiner First Lady Petra den Tanzfläche. Die beiden machen eine gute Figur. Kein Wunder, sind sind ja auch Mitglied im Tanzsportclub des VfL Sindelfingen.
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