VfL: Sindelfingen: Sporthallen als Zufluchtsort – so sieht das der Sport

Vor dem Krieg fliehende Menschen ziehen in Sporthallen ein

Sport und Gesellschaft. Der Krieg in der Ukraine wirkt sich direkt auf den Sport im Kreis Böblingen aus. Dass im Glaspalast und in der Eschenried-Sporthalle Menschen Schutz bekommen anstatt Athleten trainieren und Wettkämpfe betreiben, trifft den VfL Sindelfingen und die anderen Sportvereine in der Stadt spürbar. Die SZ/BZ hat bei VfL-Geschäftsführerin Anne Köhler und dem Vorsitzenden der IG Sport, Dr. Oliver Wengert, nachgefragt.

Nachdem es in der Pandemie zuletzt heftige Einschnitte für den Sport gab fallen jetzt erneut Sportstätten weg. Wie lange hatten Sie Zeit, sich darauf einzustellen?

Anne Köhler: „Bei der Eschenried-Halle haben wir freitags mitbekommen, dass wir sie ab Montag nicht mehr nutzen können. Eine Woche später war das beim Glaspalast genauso.“

Wie reagieren Sie drauf?

Dr. Oliver Wengert: „Ich bin ein Sprecher des Sports und Sport ist immer unglaublich wichtig. Aber es ist doch klar: Wir sprechen hier von einem Krieg, in dem Menschen alles verlieren, was sie haben. Es ist ein Grundverständnis des Sports, dass wir über alle Religionen und Nationalitäten solidarisch handeln und helfen. Das tun wir auch hier sehr kurzfristig und unbürokratisch ohne jegliches Zucken. Eine Stadt muss die Menschen schnell dort unterbringen, wo es funktioniert. Das sind nun einmal die Hallen. Aber das reicht nicht.“

Das reicht nicht – was meinen Sie damit?

Dr. Oliver Wengert: „Dieser Krieg ist nicht in vier bis sechs Wochen vorbei. Die Ukrainer wollen sicher zurück, aber wohin sollen sie denn, wenn zuhause alles zerbombt ist? Es wird Jahre dauern, bis die Ukraine wieder aufgebaut ist.“

Was fordern Sie deshalb?

Dr. Oliver Wengert: „Ich will von keinem Appell sprechen, das wäre das falsche Wort. Einen Appell richte ich an Putin. Das Umwidmen der Hallen als Notunterkunft ist eine Notlösung, die wir als Sport mittragen. Aber es kann keine Dauerlösung sein. Deshalb fordere ich, dass man parallel zur kurzfristigen Unterbringung bereits jetzt langfristige Planungen anstellt und Alternativen prüft, wie die Zufluchtsuchenden zukünftig versorgt werden. Das kann nicht in Sportstätten stattfinden.“

Wie sehr wirkt sich die aktuelle Situation ganz unmittelbar auf den Sport aus?

Anne Köhler: „Im konkreten Fall ist im Eschenried vor allem die Rhythmische Sportgymnastik betroffen. Die Turner auf dem Goldberg sind zusammengerückt und haben Trainingszeiten abgegeben. Außerdem trifft es die Karate-Abteilung. Im Glaspalast ist es Stand heute vom reinen Sportbetrieb her nicht ganz so dramatisch, weil die Leichtathleten die Hallensaison beendet haben und ins Freie wechselten.

Aber spätestens im Herbst wird sich das quer durch viele Abteilungen ändern, wenn die Sportler zurück in die Hallen müssen. Wobei wir noch nicht wissen, welche Hallen noch ins Spiel kommen. Und man darf etwas anderes auf gar keinen Fall vergessen.“

Was meinen Sie?

Anne Köhler: „Es liegen zwei harte Pandemiejahre hinter uns. In denen haben wir beim VfL Sindelfingen etwa 1000 Mitglieder verloren, alleine die Zahlen beim Judo gingen von 300 auf 200 zurück. Die Ehrenamtlichen sind an Grenzen gestoßen, und der VfL hat, was die Finanzen, angeht zum zweiten Mal in Folge negative Ergebnisse.

All den anderen Vereinen in der IG Sport geht es ähnlich. Wenn das Sportangebot nun erneut nicht nur kurzfristig, sondern über einen längeren Zeitraum stark eingeschränkt werden würde, könnten die Vereine in Sindelfingen in ihrer Grundsubstanz gefährdet sein. Es würde den Sport, wie wir ihn kennen, in Zukunft nicht mehr geben.“

Dr. Oliver Wengert: „Wir sprechen jetzt schon von einer verlorenen Generation. Die Sechs- bis Achtjährigen konnten wir während Corona nicht erreichen und für Sport begeistern, viele Jugendliche von 13 bis 15 Jahren sind abgesprungen.“

Mit welchen Folgen für die Jugendlichen?

Anne Köhler: „Sport hat eine enorme psychosoziale Wirkung auf Kinder. Diese ging ebenso verloren wie motorische Fähigkeiten oder auch jegliche Art von Schwimmkenntnissen. Und das sind nur ein paar Beispiele.

Dennoch gehen Sie bisher mit den Entscheidungen mit.

Anne Köhler: „Wir wissen genau, dass es von der Stadt in den vergangenen beiden Jahren über die Maßen hinaus Übungsleiterpauschalen und Corona-Zuschüsse gab. Aber jetzt muss ein Konzept her. Wir wollen auch bei den Menschen aus der Ukraine mit sportlichen Angeboten Arbeit leisten, die gerne als sozialer Kitt der Gesellschaft bezeichnet wird. Wir verteilen bei Helfen satt Hamstern Flyer in ukrainischer Sprache, um die Menschen niederschwellig und kostenfrei in den Verein zu holen. Bei der Sportgymnastik oder den Tänzern sind die ersten schon angekommen.

Die Speedy-Schule, die Fußballschule Fairplay, die Kindersportschule und die Judokas wollen die Menschen integrieren, andere Abteilungen sind aufgerufen, mitzumachen, um die im Glaspalast und Eschenried untergebrachten Personen in unseren Verein, in die Sindelfinger Gesellschaft einzubinden. Wir wollen diese Integrationsarbeit aktiv leisten und unsere Stärken einbringen. Aber dafür brauchen wir Sporträume.“

Wo sollen diese her kommen?

Dr. Oliver Wengert: „Es ist nicht die Aufgabe des Sports, sich das zu überlegen, aber wenn ich eine gute Idee habe, muss ich sie einbringen. Und von einer Verwaltung kann und muss ich erwarten, dass sie an den richtigen Stellen nachhakt. Vielleicht geht es um leer stehende Lokal- und Ladenflächen, um Hotels, Kirchen- und Gemeinderäume. Wenn es um Catering geht, denke ich an Gastronomen und wenn ich mir Gedanken über ein Zelt mache, dann sollte ich vielleicht bei Werner und Dieter Klauß nachfragen, der seit zwei Jahren mit seinem Festzelt nicht auf den Wasen kann. Letzteres sollte man sicher nicht wegwischen mit der Begründung, dass es zu lange dauert, das Zelt aufzubauen.

Noch einmal: Der Krieg wird uns noch lange beschäftigen. Wir sprechen hier von der größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg und einer nie dagewesenen Aufgabe Europas.“

Welche Rolle könnte der Sport als Berater spielen?

Anne Köhler: „Der Sport sollte aktiv miteinbezogen werden und mit Blick auf seine sozialen und gesellschaftlichen Funktionen sollten – wie dies beispielsweise in Stuttgart der Fall ist – Sportstätten an das Ende der Prioritätenliste für Unterkünfte gesetzt werden. Bisher haben wir immer sehr flexibel auf alle Herausforderungen reagiert und haben unsere Interessen zugunsten der Allgemeinheit zurückgestellt, zum Beispiel bei der Errichtung von Impfzentren in Sporthallen, was unsere gemeinnützige Arbeit sehr erschwert hat. “

Ist vielleicht genau das das Problem?

Dr. Oliver Wengert: „Der Sport ist in Sindelfingen sehr gut organisiert. Es ist gut, wenn man diese Basis nutzt, aber ich habe große Sorge, dass die Stadt zu viel auf dem Sport ablädt. Ich hoffe, ich täusche mich da. Eins darf aber niemals passieren: Zu denken, dass die Probleme gelöst sind, wenn man in Sporthallen die Trennwände eingezogen hat. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es auf Dauer gut geht, wenn im Glaspalast 400 Menschen leben, die sich nicht kennen aber alle nur ukrainisch sprechen. Da muss es irgendwann den großen Lagerkoller geben.“

Die zentrale Forderung?

Dr. Oliver Wengert: „Dass man sich genau überlegt: Was ist in drei Monaten, in einem halben Jahr, im Jahr 2023? Auf dieser Basis braucht es Konzepte, und dafür muss die Stadt sich mit viel mehr Organisationen über den Sport hinaus vernetzen.

Bild: Donnerstagnachmittag: Die Messebauer ziehen die Trennwände im Glaspalast ein. Nächste Woche sollen hier Menschen zuflucht vor dem Krieg finden.Bild: Wegner

Quelle: SZ/BZ-Online